Zur Unterstützung der medizinischen Versorgung in Wuhan sind tausende Ärzt*innen und Pflegekräfte aus anderen Städten Chinas nach Wuhan gereist. „Das Team vom Pudong Mental Health Center zur Unterstützung von Wuhan“ steht auf dem Plakat, welches die Psychiater der Shanghaier Psychiatrie in den Händen halten. Ganz links im Bild ist unser Projektpartner Zhao Xudong, der Leiter des Pudong Mental Health Centers zu sehen. Die drei Psychiater in roten Jacken werden nach Wuhan geschickt, um dort psychiatrische Unterstützung zu leisten. Unter Ihnen ist auch einer unserer Teilnehmer aus der Mentorengruppe unseres Programms: Liu Liang (im Bild der 5. von links). Er hatte sich freiwillig gemeldet, um Hilfe in Wuhan zu leisten.
In diesem Moment kämpfen viele, der von uns in Psychosomatischer Medizin ausgebildeten Mediziner*innen, Psycholog*innen und Pflegekräfte gegen die psychologischen Folgen des Coronaviruses an. Unser Projektpartner Prof. Zhao Xudong führte gemeinsam mit anderen Kollegen eine Krisensitzung zum Thema „psychische Belastung der Bevölkerung durch die Ausbreitung des Coronavirus“. Die Ergebnisse der Sitzung wurden vom chinesischen Nationalen Gesundheitskomitee aufgenommen und das Ministerium hat Leitlinien zur psychologischen Versorgung der in Not befindlichen Bevölkerung herausgegeben. Dr. Li Wentian – Abteilungsleiter für klinische Psychologie am Mental Health Center in Wuhan – ist mitverantwortlich für den psychologischen Dienst in Wuhan, wo das Virus erstmals ausbrach. Prof. Wei Jing und Prof. Zhang Lan leiten den psychologischen Notfalldienst in Peking und Chengdu. Die Kollegen leiten Supervisionen zum Umgang mit Menschen im Ausnahmezustand (Panik, Trauer, Angst, Depression, Traumatisierung etc.) an. Sie betreuen das Pflegepersonal und die Ärzt*innen, die unter enormen Stress stehen. Zusätzlich wird Schwerkranken psychologische Betreuung, bis hin zur palliativen Arbeit angeboten. Es wurden Hotlines eingerichtet, die von psychologischem Fachpersonal betreut werden. Kostenlose Onlinekurse zum Thema „psychologische Gesundheit“ und „psychologische Selbsthilfe“ werden der Bevölkerung sowie dem überlasteten medizinischen Personal zur Verfügung gestellt. Koordiniert werden diese Maßnahmen vom Regierungskomitee für Gesundheit und dem Komitee für Psychologisches Counselling und Psychotherapie.
In China stehen Millionen von Menschen aufgrund des Ausbruchs Coronaviruses unter Quarantäne. Allein in der Stadt Wuhan wurden 11 Millionen Einwohner unter Quarantäne gestellt. Besonders am Anfang der Epidemie waren die Ressourcen für die medizinische Versorgung knapp und die Krankheitsverläufe schwerwiegend. Diese akute Krisensituation führt auch zu vielen psychosomatischen und psychologischen Beschwerden. Die ersten statistischen Daten wurden uns von den Kollegen aus Wuhan mitgeteilt. Analysiert wurden 2144 Hotline-Anrufe in der Stadt Wuhan im Zeitraum vom 04.-20. Februar 2020. Unter den Anrufern hatten 47,3% Angstzustände, 19,9% Schlafprobleme, 15,3% somatoforme Symptome, 16,1% depressive Symptome und 1,4% andere emotionale Zustände (wie Einsamkeit, Müdigkeit und Unruhe). 39% der Anrufer suchten Unterstützung bei der Bewältigung von Aufgaben des alltäglichen Lebens (wie zum Beispiel Einkaufen, Verkehr, Umgang mit einer medizinischen Diagnose und Behandlung und Erwerb von Schutzmasken). 19,6% berichteten von Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit, die durch Medienberichte über die Epidemie und die Reaktion der Gesellschaft verursacht wurden. 15,7% berichteten über Panik, ein Engegefühl in der Brust und körperliche Symptome ohne Verdacht auf eine Lungenentzündung (somatoforme Symptome). 4,3% hatten Symptome einer Lungenentzündung vermutet und waren besorgt über eine mögliche Infektion. 21,4% hatten andere psychosoziale Probleme (wie zwischenmenschliche Konflikte in der Familie und Probleme am Arbeitsplatz). Sie müssen mit extremen Emotionen von Panik, Schock, Verwirrung, Wut, Trauer, Schuld und Hilflosigkeit umgehen. Dieser emotionale Stress kann auch in körperlichen Beschwerden, wie Herzklopfen, Atemnot, Engegefühl in der Brust, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel, Kopfschmerzen, Einschlafstörungen und Albträumen äußern. Das Ausmaß der langfristigen psychosozialen Folgen des weltweit verbreiteten Coronavirus auf die Allgemeinbevölkerung der betroffenen Länder und besonders das eingebundene medizinische Personal wird sich wohl erst in den kommenden Monaten zeigen.
Prof. Fritzsche
China 2019: rasante Entwicklungen, Fortschritt und Kontrolle
Wenn man derzeit (Oktober 2019) durch China fährt, drängen sich Vergleiche auf, einerseits mit dem China, das man kennt, wie es bis vor einigen Jahren war, und dann natürlich mit Deutschland.
Zuallererst fallen die Neu und Weiterentwicklungen in Städtebau, in den Verkehrswegen, Autobahnen, Stadtautobahnen, U-Bahn-Linien, Schnellzugtrassen, Flughäfen, neuen Städten und Stadtteilen auf. Sie wirken noch imposanter als früher. Größer, technisch anspruchsvoller, ästhetischer, in den Bauten selbst ebenso wie in den sorgsam angelegten Grünflächen und Anlagen drum herum. Es wirkt nicht nur eindrucksvoll, sondern es scheint auch alles zu funktionieren. Und: der Prozess mündet im Resultat. Ganz im Unterschied zu Frankfurt, wo es von Baustellen wimmelt, die monatelang, wenn nicht jahrelang bestehen, ohne dass wesentliche Fortschritte erzielt würden. Baustellen, auf denen lange Zeit überhaupt nichts geschieht, nicht nur in Frankfurt natürlich, auf Verkehrswegen allemal landesweit auch. Dagegen scheint es China zügig voran zu gehen, die Dinge werden getan, beendet, dann ist die Baustelle weg und das Neue, vielleicht eine U Bahnlinie oder eine Stadtautobahn gebaut, quer durch die Stadt, 20 km lang, in einem Jahr. Und dann funktionieren sie auch noch, pünktlich, gut organisiert, sauber, ohne wahrnehmbare Störungen. In Frankfurt dagegen, gleich am Flughafen bei der Rückkehr, gehen die Rolltreppen nicht. Auch hier eine Baustelle, wer weiß, wie lange schon, wie lange noch, und nichts passiert.
Also hier schon ein erster Kontrast, dort in China fertige Werke, hier in Deutschland andauernde Baustellen mit mageren Resultaten. Und das liegt nicht an Bürgerklagen, an mehr Partizipation. Es liegt am Versagen der Administration. Es ist anscheinend so, dass die skandalösen Dauerbaustellen, die über Jahre Milliarden verschlingen und die man hier noch nicht einmal benennen mag, keine Einzelfälle sind. Sie sind die Spitze des Eisbergs einer dauernden meist ziellosen und schlecht organisierten und koordinierten Umbauerei und Repariererei. Es passiert etwas, aber es geht nicht wirklich weiter, es dreht sich irgendwie im Kreis, weil die Richtung nicht definiert ist oder nicht definiert werden darf oder so umstritten ist, dass keine klare Linie dabei herauskommt. So wenig zwingend die Analogie ist, es ist anscheinend wie in der hiesigen Politik. Rastlose Untätigkeit.
In China dagegen herrscht Konsens darüber, dass es „voran“ gehen soll und das bedeutet Modernisierung, Beschleunigung, Effektivitätssteigerung, Geschwindigkeit und auch Größe. Wenn man das decodiert, wird schnell der durchgängige grandiose oder auch imperiale Gestus sichtbar. China zeigt sich und der Welt, was es wieder alles kann und ist in vielem so gut wie alle andern oder sogar schon besser. Wir hatten den Eindruck, das Etikett „Made in Germany“ ziert bald nur noch Nischenprodukte und steht überhaupt nicht mehr für die besondere Qualität sondern wird er zum Warnhinweis, so wie es bei seiner Einführung von den Briten auch gedacht war. Und das Etikett „Made in China“, dass man früher erschrocken auf Produkten fand, deren Qualität man eher nicht vertrauen wollte, bürgt zunehmend für Qualität. China kopiert auch nicht mehr sondern übernimmt Anregungen und baut dann Eigenes. Und wird hierin besser als der Rest der Welt. Das zeigen exemplarisch die in Bau befindliche (und dann einzige!) Raumstation oder der kurz eröffnete neue Flughafen in Peking oder vor allem anderen das Projekt der neuen Seidenstraße.
Trotz einer nicht unerheblichen Begeisterung über diese Entwicklungen stellt sich gerade dieses Mal während der Reise ein unangenehmes Gefühl ein. Man wird und fühlt sich permanent kontrolliert. Selbstverständlich bei der Einreise, und auch bei jedem Inlandsflug oder bei einem Flug heraus nach Hongkong und wieder herein nach China und dann wieder einem anderen Flug und dann wieder in eine Transitstation gibt es immer mindestens drei Schritte der Kontrolle: der Pass wird gescannt, das Gesicht biometrisch fotografiert und schließlich die Person noch einmal von einem Grenzer beim Abgleich aller dieser drei mit den vorhandenen online abgerufenen Informationen, eingehend inspiziert, verglichen und schließlich großmütig akzeptiert. Das geschieht fortwährend, ermüdet und stößt ab. Damit einhergehend ist die Anzahl der Überwachungsmaschinen, Videokameras und wer weiß was noch alles, exponentiell gestiegen. Jede größere Straße, Straßenkreuzung Ladenpassage, öffentliches Gebäude, insbesondere Verkehrsknotenpunkte und viele andere mehr erzeugen den Eindruck und schaffen vermutlich auch die Wirklichkeit einer fortwährenden Beobachtung und Überwachung. Gäbe es nicht inzwischen intelligente Software, die die Auswertung all dieser Daten automatisiert vornimmt und fortwährend verbessert, müsste man befürchten, dass die eine Hälfte des Landes mit der Auswertung der Daten zwecks Kontrolle der anderen Hälfte beschäftigt ist und das am besten die Rollen dann täglich oder wöchentlich, am besten in einem durch einen Zufallsgenerator bestimmten Rhythmus getauscht werden, damit sichergestellt ist, dass auch die Wächter bewacht werden. Aber das erledigt heute die intelligente Software.
Die weit verbreitete Mentalität scheint zu sein, dass der Einzelne hinter der Masse, dem Volk, der Partei zurücktritt. Gerechtfertigt wird vor allem retrospektiv: „Seht was in den letzten Jahren erreicht wurde – die betriebene Politik, die gesamte Herangehensweise muss also richtig sein. Darauf kann und muss man stolz sein – da müssen Einzelschicksale eben hinter zurücktreten. Und ohnehin gibt es eine große Mehrheit, die profitiert.“ Die herrschende Energie ist jedenfalls beeindruckend – gut, wir waren natürlich auch nur in riesigen Metropolen unterwegs. … Neben der ungewohnten Überwachungs- und Kontrollmaschinerie, konnte man generell eine (im Vergleich mit Europa gewisse Andersartigkeit) des Umgangs mit Abweichungen von der Norm sehen. Beispiel Shanghai, Dachterasse, oder Xi’an, Restaurant: Vom Protokoll abweichen und den reservierten, aber noch leeren Tisch, vorübergehend an uns vergeben? – Nicht möglich. Einen dritten Tisch für die Reisegruppe im komplett leeren lokal aufmachen? – Nicht möglich. Angst davor aufzufallen? Oder einfach eine Mentalität/Erziehung, die Protokollabweichungen scheut?
In China läuft es im Großen sehr zügig und es geht gut dirigiert vorwärts. Im Kleinen hat man dennoch oft den Eindruck, dass Dinge verkompliziert werden und ineffizient ablaufen – ein merkwürdiger Kontrast. Dahingegen scheint es in Deutschland genau umgekehrt zu sein – der im Kleinen häufiger anzutreffende Pragmatismus, verheddert sich im Großen im Netz der Administration. …. Nach Hongkong kommen: verblüffend vertrautes Gefühl, trotz (natürlich) großem Unterschied zu Europa – warum? Die Stadt wirkt belebt (verlebt), authentisch, und vermittelt so gleich ein angenehmeres Gefühl. Na gut – dazu hatten die (mainland-) chinesischen Riesenstädte noch gar keine Zeit. Aber werden sie diese jemals haben? Schließlich ist nach spätestens 15 Jahren ja schon alles veraltet, und muss dann dem Neuen weichen…
Michael Wolf ist Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis. Er war bis 2013 Professor für Psychologie und Beratung an der Hochschule Fulda und Privatdozent für Soziologie an der FU Berlin. Er hat von 2005 bis 2016 am Ausbildungsprogramm in psychodynamischer Psychotherapie am Shanghai Mental Health Center als Dozent und Supervisor mitgewirkt. Er arbeitet an einer Publikation über seine Erfahrungen in China und seiner kulturwissenschaftlichen Überlegungen zur Geschichte und aktuellen Lage in China. Neuere andere Publikationen: Krieg, Trauma und Politik. Gewalt und Generation: Die unbewusste Dynamik, Frankfurt 2017, und: Psychoanalyse als Forschungsmethode der Kritischen Theorie, Frankfurt 2018.
Seit rund 20 Jahren gibt es im Bereich Psychotherapie einen regen Austausch zwischen Deutschland und China. Am Shanghai Mental Health Center werden Aus- und Weiterbildungen angeboten, die von deutschen und chinesischen TherapeutInnen geleitet werden. Vor Kurzem wurde die erfolgreiche Kooperation auch auf die Psychosomatische Medizin ausgeweitet – und auch hier gibt es eine große Nachfrage seitens der chinesischen Gesundheitsberufler.
Zum Artikel (pdf): Erfahrungstransfer in einer Umbruchgesellschaft
(entnommen aus der Zeitschrift Dr. med. Mabuse)
Siehe auch 20 Jahre Psychosomatik
„Das Lehren mit den Worten ist nicht so gut wie das Lehren mit dem Leib“
Als Körperpsychotherapeut unterwegs in China
Download Reisebericht Chinesisch
Als Körperpsychotherapeut unterwegs in China, psychosozial 134 IV/2013, 119-135
Sollmann, U. (2013)
Als ich mich im Frühjahr auf meinen ersten Besuch in Beijing vorbereitete, bat mich Hans-Jürgen Wirth einige meiner Eindrücke in Form eines Reiseberichts zusammenzufassen. Da ich bislang einen solchen Bericht noch nie für einen Kollegenkreis geschrieben hatte, betrete ich in vielerlei Hinsicht Neuland. Beijing war Neuland. Die körperpsychotherapeutische Arbeit mit Chinesen war Neuland.
Und dieser Reisebericht ist Neuland. Die chinesische Redewendung »Das Lehren mit den Worten ist nicht so gut wie das Lehren mit dem Leib« (yánjiào bù rù shenjiào) hingegen ist mir vertrauter (Linck 2011). Als Mitglied der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP) wurde ich von der Chinesischen Gesellschaft für Psychologie, ähnlich dem Bund Deutscher Psychologen
(BDP), zu einem ihrer Fachkongresse eingeladen. Einerseits sollte ich etwas zur Organisation von (Körper-)Psychotherapie in Deutschland erzählen, andererseits Einblicke in das Thema »Körpersprache und nonverbale Kommunikation« in Form eines Workshops ermöglichen. Da die Initiative für die Einladung über Dr. Fang Xin vom Mental Health Bereich der Peking University (Beida) ausging, wurde ich auch dort gebeten, dem Mitarbeiterkreis meine Arbeitsweise exemplarisch vorzustellen.
Download Reisebericht China (deutsch)