Einladung zum Studientag am Samstag, 9. Juli 2022, 10.00 Uhr – 14.30 Uhr, in Berlin:
10.00 – 11.15 Uhr | Begrüßung Dr. med. W.Merkle Frankfurt |
10.15 – 11.15 Uhr | Was ist ‚kindliche Pietät‘? Aushandlungen über intergenerationale Beziehungen im gegenwärtigen China. Dr. Marius Meinhof, Uni Bielefeld |
11.15 – 11.45 Uhr | Diskussion |
11.45 – 13.00 Uhr | Mittagspause |
13.00 – 14.00 Uhr | Psychische Verfassung und Lebensgefühl von chinesischen Studierenden in Deutschland: Erste Ergebnisse einer explorativen Studie Dipl. rer. soc. Ulrich Sollmann |
14.15 – 15.00 Uhr | Roundtable Diskussion mit chinesischen Studenten |
Hinweis zum Vortrag von Dr. Marius Meinhof
Das Konzept der „kindlichen Pietät“ (xiao) ist in den letzten Jahren zu neuer Prominenz aufgestiegen, nachdem es einige Jahrzehnte lang als Teil einer „rückständigen“ Mentalität verachtet wurde. Staatliche Diskurse rufen ein kindliches Selbst an, das über eine Stärkung „traditioneller Werte“ zu moralischem Verhalten erzogen werden soll. Dies trifft auf fruchtbaren Boden, denn es korrespondiert mit einer Suche nach Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühlen in der Mittelschicht, sowie mit Sorgen um Kindesbetreuung und Altersarmut in ärmeren Schichten. Dabei herrscht aber kaum Einigkeit darüber, was „xiao“ eigentlich bedeuten soll. Verschiedene Akteure postulieren Definitionsmacht über „chinesische Tradition“, interpretieren dabei aber diese Tradition gemäß ihrer gegenwärtigen Interessen und Bedürfnissen um. So kann „xiao“ von bedingungslosem Gehorsam gegenüber den Eltern bis zu einer gleichberechtigten und reziproken Beziehung zwischen Eltern und Kindern fast alles bedeuten. Der chinesische Entwicklungsstaat propagiert explizit eine selektive Rezeption der Tradition unter dem Slogan „das Alte für das Neue nutzen“ (gu wei
jin yong). Damit eröffnet sich auch für inoffizielle Stimmen ein Diskursraum, in dem sie die Vagheit des offiziellen Diskurses nutzen, um ihre eigenen Positionen als die mit der Moderne
kompatible „Tradition“, und die Positionen ihrer Gegner als „Rückständig“ zu klassifizieren. Mein Vortrag wird an Beispielen nachzeichnen, wie verschiedene Gruppen in China um die Definition der Pflichten kindlicher Pietät verhandeln und streiten, und dabei intergenerationale Konflikte über den Diskurs der kindlichen Pietät entweder austragen oder verdecken. Ich zeige die Wechselwirkungen zwischen dem paternalistischen staatlichen Diskurs, der dem Staat die Verantwortung für die private Moral der Bevölkerung zuweist und diese durch ein Programm des „moralischen Aufbau“ steuern möchte, und den populären Diskursen, die sich die Argumente des staatlichen Diskurses aneignen um ihre jeweiligen Interessen als Kernaspekte der chinesischen Tradition zu etablieren.
Dr. Marius Meinhof ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Er leitet das DFG-Geförderte Projekt Zivilisierte Familien. Diskurse der
‚kindlichen Treue‘ in China im Zeitalter des ‚chinesischen Traums‘. Seine Spezialgebiete sind Postkoloniale Theorie, Diskurse über ‚Rückständigkeit‘ und ‚Moderne‘, sowie Mittelschichtskonsum und Intergenerationale Beziehungen in China. Sein Buch „Shopping in China“ hat den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erhalten. Zum Thema kindliche Pietät erscheinen von ihm etwa Meinhof/Zhang. 2022. The Extension of Xiao. In Eldercare Issues in China and India, ed. Longtao He and Jagriti Gangopadhyay; Meinhof. 2022. Pflicht zum Kinderkriegen? Debatten über kindliche Treue und Reproduktion in China. In. Sexuologie 29 (1–2).
Hinweis zum Vortrag von Dipl. rer. Soc. Ulrich Sollmann
Die Gruppe chinesischer Studenten stellt laut Untersuchung des DAAD die größte Gruppe Nicht-EU-ausländischer Studenten in Deutschland dar. Die Studierenden haben hohe Erwartungen an das Studium in Deutschland. Der Abschluss an einer deutschen Universität
hat in China eine große Bedeutung. Chinesische Studierende befinden sich also in einer sehr spezifischen Lebenssituation, die durch erheblichen Druck gekennzeichnet ist, wie:
- Leistungsdruck, bedingt durch die chinesische Sozialisation
- Druck durch die Familien
- Druck aufgrund der Fremdheit von Sprache und Kultur sowie Lebenssituation in Deutschland
- Sowie Druck durch Einsamkeit, Angst, Depression, Heimweh usw.
Dies führt bei nicht wenigen chinesischen Studierenden zu emotionalen Schwierigkeiten, aber auch psychischen Problemen.
Die vorzustellende Studie hat zwei Ziele: Einerseits soll durch eine qualitative, explorative Studie ermittelt werden, wie chinesische Studenten ihre Lebens- und Studiensituation in
Deutschland erleben und einschätzen. Welches sind ihre spezifischen Schwierigkeiten? Andererseits sollen hieraus Leitlinien sowie relevante und spezifische Unterstützungs- bzw
Beratungsangebote abgeleitet werden.
Ich werde einerseits die Architektur der Studie vorstellen, sowie erste Ergebnisse zur Diskussion stellen.
Ulrich Sollmann, Diplomsozialwissenschaftler, Praxis für Körperpsychotherapie, Executive Coach in Wirtschaft und Politik, Publizist und Blogger, Guest Professor Shanghai University
Political Science and Law. Regelmäßige berufliche Tätigkeit in China. Seit mehr als 10 Jahren mit dem Zusammenspiel von Alltagsverhalten und kulturellen Mustern in China befasst. Autor des Buches „Begegnungen im Reich der Mitte – mit psychologischem Blick unterwegs in China“.